Therapie
Historie der Diagnostik und Therapie des Multiplen Myeloms
Die erste wissenschaftliche Beschreibung eines Patienten mit Mulitplen Myelom (MM) erfolgte durch Doktor Samuel Solly im Jahr 1844 [1]. Es handelte sich um eine 39 Jahre alte Patientin, die an Fatigue und Knochenschmerzen aufgrund multipler Knochenbrüche litt. Nach ihrem Tod zeigte sich bei der Autopsie eine gallertartige rote Substanz, die das gesamte Knochenmark ersetzt hatte. Bereits ein Jahr später zeigte Henry Bence Jones bei einem ähnlichen Patienten, dass nach Erhitzen des Urins des Patienten auf 60 °C ein zuvor bei Raumtemperatur lösliches Protein ausfiel und sich nach Erhitzen auf 100 °C wieder löste. Beim Abkühlen war das Protein wieder als Präzipitat nachweisbar [2]. Er etablierte mit diesem Verfahren die Nachweismethode für die nach ihm benannte Proteinurie. Im Jahre 1889 beschrieb Otto Kahler erstmals eine Krankheitsentität bestehend aus der Trias multiple Knochenbrüche, Bence Jones Proteinurie und großen, runden Zellen im Knochenmark. In der Literatur wurden daraufhin zahlreiche Fallberichte über Patienten mit „Morbus Kahler“ veröffentlicht und 1928 wurden diese von Geschickter und Copeland [3] zu einer ersten Serie von 412 Fällen von Patienten mit MM zusammengefasst.
Weitere Meilensteine in der Diagnostik des MM waren die Entwicklung der Serumproteinelektrophorese [4] und der Antikörper-basierte Nachweis von freien Leichtketten im Serum [5]. Eine erste Stadieneinteilung der Erkrankung aus dem Jahre 1975 geht auf Salmon und Durie [6] zurück und erlaubt aufgrund der Diagnose von Erkrankungs-assoziierten Organschäden eine Abschätzung der Prognose und der Therapienotwendigkeit. Diese Stadieneinteilung wird heute ergänzt durch das auf Albumin und ß2-Mikroglobulin basierende „International Staging System“ [7] sowie durch zytogenetische Klassifikationen [8]. Zytogenetische Abberrationen stellen zum gegenwärtigen Zeitpunkt die bedeutendsten Prognosefaktoren dar.
Parallel zur Entwicklung der Diagnostik des MM wurden auch die Behandlungsformen für die Patienten entwickelt. Die erste publizierte Behandlung bestand 1844 bei dem durch Solly [1] veröffentlichtem Patienten aus Rhabarber und Orangenschalen. Es dauerte bis 1958 bis mit dem alkylierenden Chemotherapeutikum Melphalan erstmals eine wirksame Substanz in die Therapie des MM eingeführt wurde [9]. Kurze Zeit später wurde die Wirksamkeit einer Steroidbehandlung bei Patienten mit MM gezeigt [10] und 1969 wurde von Alexanian et al. [11] mit einer randomisierten Studie das klassische Therapieschema bestehend aus Melphalan und Prednisolon (MP) eingeführt. In den folgenden über 30 Jahren wurden diverse Chemotherapiekombinationen gegen MP als Goldstandard in klinischen Studien verglichen und es zeigte sich in einer Metaanalyse mit 6.633 Patienten aus 27 randomiserten Studien [12], dass andere Kombinationen zwar höhere Ansprechraten und einen schnelleren Wirkungseintritt erreichen konnten, jedoch keinen Einfluss auf das Gesamtüberleben der Patienten hatten. Aus diesem Grunde blieb eine Therapie mit MP jahrzehntelang der Therapiestandard bei Patienten mit MM.
Die einzige Verbesserung der Therapie in dieser Zeit gelang durch die Einführung der Hochdosistherapie (HDT) mit autologer Blutstammzelltransplantation (PBSZT). Diese wurde 1983 von McElwain and Powles [13] erstmals bei einem Patienten mit Plasmazellleukämie durchgeführt. Heute stellt das MM die häufigste Indikation für eine HDT mit autologer PBSZT in Europa dar [14]. Randomisierte Studien [15;16], die bei Patienten bis 65 Jahre eine konventionelle Chemotherapie mit MP gegenüber einer HDT verglichen, zeigten, dass Patienten nach HDT nicht nur mit 50% versus 42% eine höhere Rate an kompletten und sehr guten partiellen Remission aufwiesen, sondern dass die HDT auch zu einem mit 28% versus 10% verlängerten ereignisfreien Überleben nach 5 Jahren sowie einem mit 42% versus 21% verlängerten Gesamtüberleben nach 7 Jahren führte. Diese Studienergebnisse begründeten einen neuen Therapiestandard für die Patienten dieser Altersgruppe.
Eine weitere Verbesserung brachte die Einführung von Thalidomid, Bortezomib und Lenalidomid, die als „Neue Substanzen“ bezeichnet werden. Wegen des teratogenen Potenzials von Thalidomids, das unter dem Namen „Contergan“ bekannt wurde, wurde dieses Medikament in den sechziger Jahren weltweit vom Markt genommen. Im Jahre 1999 ließ sich bei etwa 30% einer Gruppe von Patienten mit rezidiviertem oder refraktärem MM durch das antiangiogenetisch und immunmodulatorisch wirkende Thalidomid eine anhaltende Remission erzielen [17]. Die Wirkung dieser Substanz ist nicht nur auf Tumorzellen gerichtet, sondern auch auf die umgebenden Stromazellen des Knochenmarks, in denen es zu einer Abnahme der für die Myelomzellen lebensnotwendigen Zytokinfreisetzung und Zelladhäsion führt [18].
In dem Versuch die Wirksamkeit zu steigern und die Toxizität zu vermindern, wurden synthetische Analoga des Thalidomids entwickelt, die sogenannten „immunomodulatory drugs“ (IMID). Aus dieser Substanzgruppe kristallisierte sich in zwei randomisierten Studien das Lenalidomid als Wirkstoff für Patienten mit rezidiviertem oder refraktärem MM heraus [19;20]. Die Kombination aus Lenalidomid und Dexamethason war in diesen Studien einer Dexamethason-Monotherapie hinsichtlich der Rate an kompletten und partiellen Remissionen mit 60% versus 24% überlegen und führte zu einem verbesserten ereignisfreien Überleben von im Median 11 versus 5 Monaten. Auch das Überleben war mit einer Hazard-Ratio von 0,66 signifikant verlängert. Aufgrund dieser Ergebnisse und der nachgewiesenen Wirksamkeit selbst bei Patienten, die bereits mit Thalidomid vortherapiert waren, stellt Lenalidomid heute eine zusätzliche Behandlungsoption bei Patienten mit MM dar.
Die dritte der „Neuen Substanzen“, das Bortezomib, gehört der neuen Substanzgruppe der Proteasomen-Inhibitoren an. Der Ubiquitin-Proteasomen Komplex ist bei Eukaryonten für den lebensnotwendigen Abbau der zellulären Proteine verantwortlich und eine Inhibition führt zur Apoptose, wobei schnell proliferierende Zellen besonders anfällig sind [18]. Die Wirksamkeit des Bortezomib zeigte sich in einer randomiserten Studie mit Patienten mit rezidiviertem oder refraktärem MM. In dieser Studie wurde eine Bortezomib-Monotherapie mit einer Dexamethason-Monotherapie verglichen und es zeigte sich bei den mit Bortezomib behandelten Patienten eine höhere Rate an Remissionen mit 38% versus 18%, ein längeres ereignisfreies Überleben mit im Median 6 versus 3 Monate sowie ein verbessertes Gesamtüberleben mit einer Hazard-Ratio von 0,57 [21]. Damit steht neben den immunmodulatorischen Substanzen Thalidomid und Lenalidomid mit dem Proteasomen-Inhibitor Bortezomib eine dritte „Neue Substanz“ zusätzlich zur klassischen Chemotherapie und HDT zur Behandlung der Patienten mit MM zur Verfügung.
Reference List
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