KiG-Erfahrungsbericht

Reflexionsbericht von Mirjam Pfeffer

Gedanken aus meinem Notizbuch

Freitag [im Winter 2016/2017]

Vielleicht nur 5 Minuten Echt-Zeit und trotzdem bewegt mich die erste Begegnung sehr. Bewegen im Sinne von ganz viel fühlen – Frau M. G.s [Initialen geändert] Stimme hallt in mir nach, ihre blauen Augen und ihr Zugewandt-sein klingt nach. Ansonsten weiß ich jetzt noch gar nichts von ihr. Nur, dass ich am Mittwoch wiederkommen darf. Ich habe mich wohl gefühlt. Ich habe mich verabschiedet mit den Worten „Ich freue mich auf Mittwoch“ – Sie hat es erwidert. Auf dem Fahrrad habe ich mich dann gefragt „Klang das komisch? Ich freue mich?“ – aber es stimmt! Ich freue mich, ihr wieder begegnen zu dürfen, Fragen stellen zu können.

Mittwoch, [5 Tage später]

Sitze am Rhein. Ein Kaffee neben mir. Möchte mir Zeit nehmen meine Gedanken aufzuschreiben. Die Sonne steht tief – ein besonderes Licht. Die Begegnung mit Frau G., ihrem Vater und einem engen Freund gerade eben war sehr bereichernd. Als ich ins Zimmer kam und gefragt habe, ob ich störe, haben sie mir direkt das Gefühl gegeben, dass alles gut ist, dass ich da sein darf. Eine Dreiviertelstunde war ich da, überwiegend gefüllt von Erzählungen ihrer Krankheitsgeschichte. Heute saß sie vor mir und ihr Körper ist gefüllt von Metastasen.

Morgen wird sie auf die Palliativstation verlegt – darauf freut sie sich. Sie hofft auf Besserung. Besserung der Schmerzen, der Blutwerte, der Krankheit. Es bleibt der Eindruck, dass Vater und Tochter nicht aufgeben wollen. Dass der Gedanke, ihr Leben auf dieser Welt sei endlich – vielleicht schon ganz bald – noch keinen Raum hat.

Ihre Stimme halt in mir nach mit dem Wunsch, als Mensch gesehen werden zu wollen. Ihr Wunsch an uns Ärzte und an alle, die ihr begegnen. Dass Ärzte Empathie und Echtheit halten, dass wünscht sie sich. Dabei weint sie.

Themen wie Begegnung, Berührbarkeit, Menschlichkeit – oft in meinem Kopf. Arzt sein, das ist doch so viel mehr als eine Diagnose, eine Therapie, ein Patient behandeln. Ob sie Angst vor dem Tod hat, ob sich ihr Leben seit der Diagnose verändert hat? Fragen, die mich beschäftigen, aber dafür war heute noch kein Raum. Ich freue mich auf die nächste Begegnung.

Und da kommt mir mein Abendgebet „Bitte“ von Hilde Domin in den Kopf.

Donnerstag, [8 Tage später]

Wieder ein sonnig-kalter Tag. Heute sitz ich vor der MNR, komme gerade aus Zimmer 26 der Palliativstation. Wie ich Frau G. heute vorfinde – mit dieser Situation habe ich nicht gerechnet. Bei der Ankunft und der Frage, wo ich Frau G. finde, werde ich kurzer Hand vom

Assistenzarzt mit in ihr Zimmer genommen. Frau G. schläft in ihrem Bett. Ihr Vater liegt auf dem Sofa – öffnet die Augen als wir reinkommen, nickt uns zu, bleibt liegen. Wir stehen da. Ich beobachte. Sie sieht ganz grau aus, ihr Gesicht ist eingefallen, ich höre sie schwer atmen. Wir gehen wieder raus. Setzen uns zusammen. „Was siehst du?“ „Eine ganz andere Frau G.“ – in den letzten Tagen hat sich ihr Zustand sehr verschlechtert. Es macht mich traurig und gleichzeitig bin ich so froh, dass sie hier sein kann in diesem geschützten Rahmen. Und froh, für den Rahmen dieser Begegnung auch für mich.

Freitag, [1 Tag später]

„Man verdrängt ja doch einiges im Leben“; „2018 bist du wieder dabei“ – Sätze, die ihr Vater heute sagt. Die Begegnung heute fällt mir im Nachhinein schwer. M. geht es wieder deutlich besser. Wir konnten heute sehr persönliche Dinge besprechen. Was sie sich noch wünscht in ihrem Leben. Viele Sätze bricht sie ab, weil ihr die Stimme versagt, Tränen sich den Weg über ihre Wange suchen. Gespräche über die Kostbarkeit von Zeit und Begegnung. Über die Schönheit des Lebens und der Welt. Sie kämpft. Sie will sich wieder „berappeln“,

will nicht, dass es vorbei ist. Sie glaubt nicht an Gott, aber glaubt, dass es weitergehen wird. Aber das sei für sie momentan noch nicht wichtig, sondern weiter zu leben. Im Gedächtnis bleibt mir auch, wie dankbar beide für den Rahmen, den „Mantel“ sind, den sie hier auf der Palliativstation spüren. Sie fühlen sich hier wohl, ernstgenommen, haben das Gefühl, dass man ehrlich und echt zu ihnen ist. Das freut mich unheimlich und bestätigt mich in meiner Wahrnehmung.

Trotzdem: Die Verleugnung, die Verkennung der Situation – wie ich es heute einschätze – übermannt mich. Ein Gespräch mit der Oberärztin, ob ich die Situation falsch einschätze, was man jetzt machen kann, erleichtert mich. Es hilft mir zu verstehen, dass Verdrängen erlaubt ist, aber es trotzdem Angebote geben wird für Tochter und Vater die Situation anzunehmen.

Mittwoch, [5 Tage später]

Heute haben mich die blauen Augen wieder angestrahlt. Und immer noch bleibt der Wunsch auf dieser Erde leben zu dürfen. Trotzdem hat sich etwas geändert. Wir reden darüber, wie wichtig es ist dankbar zu sein, sich nicht an materiellen Dingen festzuhalten. Tochter und

Vater betonen wieder, wie wohl und behütet sie sich hier fühlen. Wie froh und dankbar sie um diese Unterstützung sind. Als ich mich für unsere Begegnungen bedanke, erzähle wie sehr all diese Momente in mir nachhallen und wie mich diese Themen beschäftigen, sind beide zu Tränen gerührt. Sagen, dass sie froh sind, auch etwas geben zu können.

Dienstag, [6 Tage später]

Abschied. 

M.s Zustand hat sich verschlechtert. Ich komme heute, um mich zu verabschieden. Um mich zu bedanken. Ich habe mit ihr gesprochen, auch wenn mich heute keine blauen Augen angeschaut haben. Ich durfte ihren Bruder kennenlernen, mir wurde selbst in diesenschweren Stunden wieder mit so viel Offenheit und Zugewandt-sein begegnet. Es bleibt eine tiefe Dankbarkeit. Es bleibt eine lebhafte Erinnerung. Es bleibt die Bitte.

20:25 Uhr

[Ihr Vater] hat mich gerade angerufen, mir gesagt, dass M. nicht mal eine Stunde nachdem ich da war heute um [...] Uhr diese Welt verlassen hat. Er wünscht mir alles Gute für meinen Lebensweg, bedankt sich sogar bei mir – heute, in diesem Moment, in diesen so

schweren Stunden – bedankt er sich bei mir. Ich habe zu danken. Und ich bin froh, so froh, dass ich mich heute Morgen und nicht (wie ursprünglich geplant) erst morgen Mittag auf den Weg gemacht habe. So froh, dass ich Abschied nehmen konnte. So dankbar um diese

Begegnungen, die für mich und meinen Lebensweg so prägend sein werden. In meinem ganz persönlichen Glauben ist M. jetzt erlöst von all ihrem Schmerz, darf im Jenseits sein und hinterlässt im Diesseits, und so auch in meinem Leben, ihre Spuren.

Reflexionsfragen, die ich darüber hinaus noch beantworten möchte

Was hat mich motiviert, das Fach zu belegen? Welche Erwartungen hatte ich? 

Themen wie Sterben und Tod, aber auch die Suche nach einer ganzheitlichen Art der Medizin haben mich schon länger auf die Palliativmedizin aufmerksam gemacht. Eine persönliche Erfahrung im Rahmen dieses Wahlfaches war für mich ein großer Wunsch. Meine Motivation und gleichzeitig meine Erwartung war also eine Begegnung mit einem Menschen, der mich an seinen Erfahrungen, seiner Geschichte und seinen Einstellungen teilhaben lässt und dann zu spüren, was das in mir auslöst. Auch mit dem Wunsch und der Frage, ob ich mir selbst auf lange Sicht die Arbeit in diesem Bereich vorstellen kann hat mich dazu motiviert.

Wie habe ich den eLearning-Kurs erlebt?

Ich habe es sehr genossen selbst bestimmen zu können wann und wieviel ich mir auf einmal „zumute“ – oft habe ich zwischen durch Zeit zum Nachdenken gebraucht. Ich habe den eLearning-Kurs dadurch als sehr intensiv erlebt.

Welche Erfahrungen waren für meine spätere Tätigkeit als Arzt/Ärztin hilfreich?

Wünsche von Palliativpatienten, die ich im eLearning lesen konnte; z.B. den großen Wunsch nach Empathie & Echtheit, den Wunsch, dass sich Ärzte Zeit nehmen, sich einlassen, auch auf schwere Themen und Gespräche. Vor allem aber von meinen „echten Begegnungen“ mit M. und ihrem Vater nehme ich viel für mich persönlich, aber auch für meine Tätigkeit als Ärztin mit. Wir haben oft darüber gesprochen, was sich M. von Ärzten gewünscht hat. Ich werde mein Bestes geben, um meinen Patienten echt und zugänglich gegenüber zu treten, ihre Bedürfnisse zu erfragen und will mich daran erinnern nicht nur „rum zu hetzen und abzuhaken“, sondern eben den Menschen hinter der Patientennummer & Diagnose wahrzunehmen und ihm respektvoll zu begegnen.

Wie haben sich die Erfahrungen im Wahlfach auf meine Berufsmotivation ausgewirkt?

Da huscht mir ein Lächeln übers Gesicht. Das Wahlfach hat mich in sehr besonderer Weise bestärkt, dass ich meinen eigenen Berufsweg sehr gerne in der Palliativmedizin suchen möchte. Dass ich ein Tertial meines PJ hier auf der Palliativstation machen will, aber auch langfristig einen ganz tiefen Sinn in dieser Arbeit sehe und mir wünsche meinen Teil dazu beizutragen. Es hat mich bestärkt und mir gezeigt, auch wenn diese Aussage für manch einen komisch klingen mag, wie schön diese Art von Begegnung und diese Art von Arbeit für mich ist.

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