Prüfung neuer Impfstoffe: Das Beispiel Polio

von Timo Baumann

Stand: 23.3.2020

Bis zum Jahreswechsel 2019/2020 war viel von Impfgegnern zu hören, die sich oder ihre Kinder nicht impfen ließen. Mit der Corona-Pandemie scheint es dementgegen plötzlich nicht schnell genug gehen zu können, einen Impfstoff zu entwickeln und einzusetzen. Auch wenn erste Impfstoffe für Corona sicher noch auf sich warten lassen werden, lässt sich jetzt schon etwas zu den drohenden Risiken bei der Einführung von dringend erwarteten Impfstoffen sagen. Die Impfgegner wiesen oft nebulös auf drohende „Impfschäden“ hin. Angesichts der sorgfältig geprüften Impfstoffe war das meiste Quatsch.

Bei neuen Impfstoffen kann dies anders sein. Unter dem massiven Druck furchtbarer Krankheiten wurde auch früher fieberhaft geforscht, etwa nach einem Impfstoff gegen „Polio“, vollständig Poliomyelitis. Die auch Kinderlähmung genannte Krankheit führt zu Lähmungen bis hin zum Aussetzen der Atmung. Zahlreiche Menschen weltweit starben oder blieben von der Erkrankung lebenslang gezeichnet. 1916 erkrankten etwa in New York rund 8.900 Menschen. Vier Fünftel der Erkrankten waren Kinder unter fünf Jahren. Auf die Epidemie reagierten die Gesundheitsbehörden mit Quarantäne-Maßnahmen, die aber besonders in den stigmatisierten Armenvierteln umgesetzt wurden. Das Bild von der Polio in den USA änderte sich, nachdem der an den Beinen gelähmte Franklin D. Roosevelt 1933 Präsident wurde. In der Folge setzten sich die USA an die Spitze der Polio-Forschung [Lindner 2004: 222-226].

Zahlreiche Länder waren betroffen. In Berlin erkrankten 1947 rund 2.500 Menschen, fast ein Zehntel starb. Eiserne Lungen zur Beatmung gab es in Deutschland damals noch nicht. Die Behörden verboten Versammlungen von Kindern. Die internationale Suche nach einem Impfstoff brachte jahrelang kein brauchbares Ergebnis: Tests an allen Prototypen zeigten vorerst, dass sie noch keinen relevanten Teil der Probanden immun machten. Nach etlichen Fehlschlägen konnten Forscher um Jonas Salk in den USA erstmals einen wirksamen Impfstoff vorstellen. Ein Großversuch, 1954 in zahlreichen US-Bundesstaaten durchgeführt, wurde als Erfolg gewertet [Lindner 2004: 228, 236].

Die USA begannen umgehend mit Massenimpfungen. Der damalige Impfstoff bestand aus Polio-Viren, die von einer Chemikalie abgetötet sein sollten. Doch in der hastig hochgefahrenen Produktion enthielt ein Teil der Chargen auch noch lebende Viren. Rund 200 Kinder bekamen von der Impfung die Krankheit, vor der das Vakzin sie eigentlich schützen sollte [Lindner 2004: 228]. Eine diffuse Erinnerung an diesen Skandal erklärt sicherlich einen Teil der späteren Skepsis gegen Impfungen.

Das nach dem US-Hersteller, der Firma Cutter, benannte Unglück beeinflusste die Entwicklung in Deutschland. Zudem waren mit Salk-Impfstoff eines westdeutschen Herstellers geimpfte Affen bereits im Juli 1954 gestorben. Im Herbst 1955 unterbrachen die Bundesländer in Westdeutschland die Impfungen wegen Bedenken für jeweils unterschiedlich lange Zeit. Daraufhin steckten sich viele Menschen mit Polio an, etwa 1956 in Aachen. Erst im Frühjahr 1962 begann in Westdeutschland die kostenlose Impfung mit der neuen Schluckimpfung (Sabin), die wirksamer war und abgeschwächte lebende Viren nutzte. Die Erkrankungen gingen zurück [Lindner 2004: 241 f., 246, 251-257, 279 f.].

Hätten Massenimpfungen in Westdeutschland früher erfolgen sollen – wie in zahlreichen anderen Ländern? Wie lässt sich die Chance, Erkrankungen mittels eines neuen Impfstoffs zu verhindern, gegen mögliche Impfschäden abwägen, die ein verfrüht eingesetzter Impfstoff bei zahlreichen Menschen bewirken könnte? Diese Abwägungsfrage ist schwer und nicht rein numerisch zu beantworten. Zu großer Zeitdruck kann jedoch – wie bei Polio – Ursache sein, nach den ersten Testerfolgen umgehend Impfstoffe einzuführen, ohne deren Produktion ausreichend zu überwachen.

Literatur

Lindner 2004 = Ulrike Lindner: Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, München (Oldenbourg) 2004.

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