Retrospektive Diagnostik

(Auszug aus Heiner Fangerau: "Zu Paläopathologie und Geschichte der Medizin. Das Beispiel der Influenzapandemie", Der Urologe 49 (11), 2010: 1406-1410):

"Krankheit oder Krankheitsentitäten werden oft aus einem Missverständnis heraus als definierte Größe des Naturgeschehens angesehen, die unabhängig von gesellschaftlichen oder kulturellen Umständen existierten. Dies rührt zum einen daher, dass neue Konzepte sich aus alten entwickeln und dabei immer noch alte Elemente mit sich tragen. Zum anderen basiert die Begrifflichkeit der modernen Medizin zum größten Teil auf der antiken Heilkunde.
In der Geschichte kommen allerdings zahlreiche Konzepte der Medizin ganz ohne Krankheitseinheiten aus, und die Geschichte der Medizin zeigt uns, wie kontextbezogen das Verständnis von Krankheitseinheiten ist [12]. Stehen Z. B. stellare Konstellationen im Mittelpunkt der Deutung von Gesellschaften, ist klar, dass eben den Sternen eine Bedeutung bei der Definition von Krankheiten zukommt. Gerade in der Geschichte des Verständnisses von Infektionskrankheiten und Hygiene wurde vielfach gezeigt, wie sich Krankheitskonzeptionen verändern und inwiefern gesellschaftliche und soziale Umstände die Konstruktion von Krankheitsentitäten mitbestimmen (für Übersichten und Literatur vergleiche u. a. [9, 15, 17]).

Für den Historiker ist also die Influenza des Jahres 1847 die Erkrankung, die sich durch „… Erscheinungen, wie sie auch anderen acuten kosmischen Krankheitsprocessen vorhergehen …: außerordentliche Mattigkeit … Wadenkrämpfe, mehr oder weniger Kopfschmerz. Oft Erbrechen; dabei Frost und abwechselnd Hitze …“ etc. ankündigt, sich im Stadium Morbi je nach Sitz in Nasenhöhlen, Kehlkopf, Bronchien, Gastrointestinaltrakt durch Angeschlagenheit, katarrhalische Affektion, Kopfschmerz, Schleimabsonderungen, Exanthem, Erbrechen, Fieber etc. äußern kann und zuletzt eine „Depression des Nervensystems“, Delirien, Pneumonie, „bei Greisen … Gehirncongestion“ und Tod nach sich ziehen kann [1].

Für den Arzt des 21. Jahrhundert ist sie eine durch einen HxNy-Virus verursachte Erkrankung. [...]

Deshalb ist es in der Medizingeschichte notwendig, Krankheiten historisch zu deuten und nicht retrospektiv zu diagnostizieren, da man sonst dem Zirkelschluss unterliegt, neue Konzepte auf alte Schilderungen zu übertragen. Hierbei ist es möglich, Phänomene (z. B. ansteckender Krankheiten und die ihnen zugehörigen jeweiligen Theorien), Vorstellungen und Bekämpfungsstrategien im historischen Verlauf darzustellen und ihre zeitspezifische Entwicklung und Wahrnehmung zu analysieren. Die retrospektive Diagnostik, in diesem Fall die Übertragung des Erregerkonzepts auf alte Schilderungen von Epidemien, ist dabei aber nur so lange zweckmäßig, so lange die untersuchte Epoche sich im selben Denkkonzept bewegt."

 

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