Aus der posthum veröffentlichten Autobiographie des Arztes, Epidemiologen und Gesundheitspolitikers Adolf Gottstein (1857-1941): Erlebnisse und Erkenntnisse. Nachlass 1939/1940

[vgl. Labisch A (1997): Infektion oder Seuche? Zum monokausalen Denken in der Medizin. Der Beitrag Adolf Gottsteins. Das Gesundheitswesen 59, 679-68]

Kapitel „Epidemien“ [S. 59-67e]
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Ich habe viele Seuchenausbrüche erlebt, als Arzt und später in amtlicher Stellung, die nicht zu den schwereren gehörten, und schon in einem Zeitpunkt, in dem die Fortschritte der Wissenschaft unser Wissen und Können und damit unser Verstehen erheblich gesteigert hatten. Aber die Furcht vor der Ansteckung wurde dadurch nicht vermindert.

Die einheitliche Zusammenfassung aller Eindrücke kann dahin [/62] gehen, dass die drohende Gefahr, von der herrschenden Seuche befallen zu werden, alle die verschiedenen seelischen Äusserungen des natürlichen Selbsterhaltungstriebes als Massenerscheinung ins Ungeheuerliche steigern kann. Dazu kommt der Gegensatz zwischen Schutzbefohlenen und amtlichen Trägern des Schutzes. Die erst noch drohende Gefahr, anfangs wenig beachtet, häufig verlacht, kann sich so auswirken, dass sehr kleine Anfänge recht ausgedehnte Folgen herbeiführen, nur weiss keiner vorher, ob die Möglichkeit zur Wirklichkeit wird. Die verantwortlichen Stellen sind verpflichtet, gegen nur geringe Bedrohungen scharf vorzugehen, volkstümlich aufgefasst, mit Kanonen auf Spatzen zu schiessen. Dass es hier mehr auf die Gefährlichkeit als auf die zahlenmässige Wahrscheinlichkeit einer sich nähernden Seuche ankommt, ist nicht leicht verständlich, besonders nachdem das Gewitter, ohne Schaden zu stiften, sich verzogen hat. Und wo die Einsicht für die Notwendigkeit bestimmter, meist lästiger Bekämpfungsmassnahmen überhaupt noch nicht erweckt war, kam es auch zu Unruhen und Aufruhr, günstigenfalls zu passivem Widerstand. Und oft wird das Gegenteil des Gewollten erreicht. Als man die Bedeutung der Ratten als Träger der Rattenflöhe für die Verbreitung der Beulenpest erkannt hatte, setzte die englische Gesundheitsverwaltung in Hongkong Preise für die Ablieferung toter Ratten aus. Sofort legten die Chinesen Rattenzuchten an. Die Seuchenforscher und Berater der Gesetzgebung kennen und berücksichtigen solche Folgen. Man darf diesen Widerstand gegen drückende Belastung als eine Äusserung des dritten Bewegungsgesetzes von Newton von der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung ansehen. Dasselbe gilt von dem im nächsten Abschnitt erwähnten Schmuggel gegen lästige Zollüberwachung.

Schon die erste Influenzaepidemie 1889, der ausgedehnte Ausbruch einer fast unbekannt gewordenen Epidemie, die bei den meisten vorher gesunden Menschen zwar lästig und schmerzhaft verlief, [/63] aber bald in Genesung endete, gab zu vielen Witzen Anlass, der Berliner nannte sie Faulenzia. Ernster wirkte die Bedrohung Berlins durch die Hamburger Cholera von 1892. Ein Teil der Bevölkerung erinnerte sich noch an die Seuchenzüge von 1866 und 1873. Wer eine Choleraepidemie, auch als Unbeteiligter, erlebt hat, vergisst sie nie. Meine Erinnerungen an die Epidemie von 1866, die ich als neunjähriger Knabe um mich morden sah, sind nie verblasst, der um ein Jahr jüngere Chirurg Schleich erzählt in seiner Lebensbeschreibung dasselbe. Wer eine Cholerapidemie noch nicht erlebt hatte, erfuhr ihre Schrecken aus den Erzählungen von Grosseltern und Eltern, denn keine grössere Familie war von Opfern verschont geblieben. Für die Beunruhigung der übrigen sorgten die Zeitungen. Gutgemeinte, aber oft nicht zutreffende Volksaufklärungen steigerten die Angst. Jede kleinste, wirkliche oder vermeintliche Änderung im Befinden führte zum Alarm. Es war oft nur komisch. Die von den Fachmännern empfohlenen Schutzmassnahmen wurden nicht nur streng befolgt, sie galten vielmehr als nicht ausreichend. Der Spürsinn trieb zu ausgeklügelten Absperrmassnahmen und grotesken Sicherungen gegen die Übertragung durch Menschen und Dinge unter Ausnutzung von Physik und Chemie. Die Behandlung der Nahrungsmittel und Gebrauchsgeräte ähnelte der von Geisteskranken mit Vergiftungswahn oder der Vorstellung des Elektrisiertwerdens durch die Wände hindurch. Ein mir befreundeter junger Bakteriologe nahm keines Besuchers Hand, führte in seiner Küche die Sterilisierungsverfahren des Laboratoriums ein und unterzog ihnen jeden sonst kalt genossenen Bissen auf die Gefahr der Ungeniessbarkeit. Geschäftsleute nutzten die Stimmung aus, erfanden und vertrieben Überflüssiges und verlangten von den Ärzten Empfehlungen. Ähnliche geistige Epidemien von Seuchenfurcht erlebte ich, wenn auch in viel geringerem Umfang, als 1917 in Berlin eine kleine Pockenepidemie durch Einschleppung von Holstein ausbrach. Die Gefahr war viel geringer als 1892, nicht aber die Angst. Die Pockenfurcht machte uns viel grössere Arbeit als die dankbare Bekämpfung des kleinen Pockenherdes. Nicht dass wir Massenimpfstellen schnell errichten mussten, schuf uns die Last, sondern dass ihnen eine verängstigte, an ausreichendem Erfolg zweifelnde Masse zuströmte, darunter so mancher frühere Impfgegner. Aber man soll aus diesen Feststellungen keine weiteren Schlüsse ziehen, als die der Steigerung der Angst bei Empfänglichen und der Erhöhung der Zahl dieser empfänglich Gewordenen. Denn wir Ärzte kamen ja nur in Berührung mit der grossen Zahl der Unvernünftigen, nicht mit der grösseren Zahl der kaltblütig Gebliebenen.

Günstig wirkte in den Zeiten der Seuchennot bei den Verantwortlichen das Freiwerden vom Buchstaben der Gesetze und Verordnungen. An ihre Stelle trat die Fähigkeit zum Selbstdenken und Selbsthandeln in Lagen, die nicht vorausgesehen werden können. Namentlich die ausführenden Organe der Sanitätspolizei waren 1892 verständig, kaltblütig auf unauffälliges Tun bedacht, sie folgten bei guter Schulung dem gesunden Menschenverstand und bemühten sich um Beruhigung. Im amtlichen Dienst sah ich unter ihnen nie einen Angstmeier. Aber mancher lernte wohl auch, dass sie nicht nur Ausführer von Verordnungen seien, sondern auch deren Opfer werden konnten. In den ersten Tagen drohender Gefahr 1892 wurden die Polizeibeamten, Ärzte und ehrenamtlichen Kräfte zu einer Pflichtsitzung einberufen, um in ihrem Bezirk gesundheitliche Misstände festzustellen und zu beseitigen. Wie immer war das eine gute Gelegenheit für Heissporne. Unter anderem wurde [/65] Krankenhaus und Absonderungszwang in verschärfter Form verlangt. Ein junger Polizeioffizier sprang erregt auf. Falls der Auftrag dienstlich an ihn käme, würde er ihn pflichtgemäss ausführen. Sobald ihm selbst aber sein Kind abgefordert werde, würde er es mit der Pistole verteidigen. Nun wurden nur noch massvolle Vorschläge beraten.

Sehr nützlich ist immer die Gelegenheit zu eigener Anschauung für alle, die bisher nur mit dem Buchstaben des Gesetzes zu tun hatten. Ich sah das später noch schärfer als Leiter von Gesundheitsämtern. Die gesetzlich vorgeschriebene Desinfektion bei übertragbaren Krankheiten nutzt nicht dem Erkrankten, der zur Genesung kommt oder stirbt oder ins Krankenhaus verlegt wird. Sie dient dem Schutz der von ihm Bedrohten. In der Kostenfrage muss daher weit entgegengekommen werden, zumal die Desinfektion lästig ist und für Geschäftstreibende mit wirtschaftlichen Nachteilen verbunden sein kann. Die Gesetze tragen dem Rechnung, und fortschrittliche Gemeinden gehen freiwillig darüber hinaus.

Und dafür sind manche Stadtverordnete nie zu haben. Sie haben ihrer Geschäftstüchtigkeit ihr Ansehen zu verdanken, das ihnen im Alter gestattete, ihrem Wohnsitz mit ihren Erfahrungen ehrenamtlich zu dienen. Ihre soliden Grundsätze sichern das Masshalten bei der Verfügung über Steuereingänge, sie überwachen den Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben. Aber kein Jahreshaushalt kann Gewinne der Zukunft durch Absenken der Sterblichkeit, namentlich auch der später erwerbsfähigen Jugend, einsetzen. Daher galten die Ausgaben für die Desinfektion als nicht produktiv und sollten vom Betroffenen getragen werden, und nur bei Mittellosen von der Gemeinde. Einer dieser mit Recht hochachtbaren Gegner war schwer zur Bewilligung von Mitteln für Verbesserung der Methoden zu bringen und forderte stets scharfe Sicherungen gegen Ausnutzung durch Zahlungsfähige. Er hatte grossen Anhang. Einst erfreute er sich des Besuchs seiner auswärtigen Enkel, [/66] als das Kind des Hauswarts an Scharlach erkrankte. Noch in der Nacht angerufen, sollte ich sofort für Krankenhauswagen und Desinfektionskolonne sorgen. Ich kam weniger mit Hinweisen auf entgegenstehende gesetzliche Bestimmungen als mit Aufklärungen über die Geringfügigkeit der Gefahr, wenn wie stets vorgegangen würde. Er wurde jetzt aus besserem Verstehen entgegenkommender. Andere meinten, dass das Geld für die Anstalts-Behandlung Tuberkulöser doch nutzlos an Verlorene vertan werde. Aber sie wurden rasend, wenn ein Mitglied ihrer Familie tuberkuloseverdächtig war und nicht sofort ein Heilstättenplatz frei stand, es wäre eben nicht genügend vorgesorgt.

Als 1920 das russische Angriffsheer auf Polen nach seiner Niederlage die Grenzen Ostpreussens überschritt, war es an Menschen und Tieren verseucht. Die Aufgabe der Reichsregierung war es, die verwahrlosten Mannschaften aus politischen Gründen so schnell wie möglich ins Reichsinnere zu überführen. Die übergangenen Preussischen Kreisärzte meldeten uns telegraphisch schwere Verstösse gegen gesundheitlich notwendige Massnahmen; das Reich hatte keine ausführenden Gesundheitsbehörden. Der von mir sofort angerufene Reichskommissar zur Beförderung der Internierten, im Gefühl seiner dringlichen politischen Aufgabe, verschloss sich unseren Vorschlägen. Grosse Schnelligkeit war geboten, ich schlug Lärm, und der preussische Ministerpräsident eilte mit den zuständigen Ministern, mir und meinen Mitarbeitern als den Fachmännern sofort in die Reichskanzlei, wo ebenfalls schleunig eine Ministerkonferenz einberufen wurde. Mein an Erfahrungen reicher Mitarbeiter, der preussische Referent für Seuchenbekämpfung, erstattete den Bericht und schilderte die Gefahr des Fleckfiebers, aber er sprach mir zu akademisch, und ich flüsterte ihm das Wort "Läuse" zu. Diese Erwähnung der Verbreiter des Fleckfiebers [/67] wirkte sofort. Der prächtige damalige Reichskanzler Fehrenbach zuckte unruhig mit den Schultern und mein Ministerpräsident machte Bewegungen, als wollte er sich jucken. Fehrenbach trat energisch für uns ein, und wenige Stunden später fand eine Fachbesprechung aller Beteiligten statt, die zu voller Verständigung führte.

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Übrigens kann nicht nur die übertriebene Angst vor der Ansteckung im Privatleben zu ernsten Nachteilen führen. Schwerer Schaden kann auch eintreten, wenn die medizinisch wissenschaftliche Tagesmeinung einen einzigen Faktor in der verwickelten Ursachenkette der Entstehung von Volkskrankheiten allzu stark in den Vordergrund stellt und nur von ihm aus das Übel bekämpfen zu können hofft. Einige Beispiele wurden schon früher erwähnt; andere seien hier genannt. Als nach dem Siegeszug der Bakteriologie auch die zur Volksseuche angestiegene Säuglingssterblichkeit ausschliesslich auf eine Infektion durch keimhaltige Kuhmilch zurückgeführt wurde, erzeugte die intensive Sterilisierung der Kuhmilch den Kinderskorbut. In der ersten Zeit der antiseptischen Wundbehandlung haben die chemischen Antiseptika das Leben mancher Kranken und Ärzte gefährdet. Auch in der Raumdesinfektion und der Absonderung ansteckungsverdächtiger Menschen ist man anfangs weit über das Erforderliche hinaus gegangen. Der Satz, dass das Heilmittel nicht schlimmer als die Krankheit sein dürfe, ist sehr alt, man wird aber wohl bei jeder neuen Lage an ihn erinnern müssen.

[/67b] Nach einer kurzen und verhältnismässig gutartigen Influenzaepidemie des Sommers 1918 brach im November die schwere, sich bis in das erste Vierteljahr von 1919 fortsetzende Winterepidemie des Jahres 1918/19 aus. Auf die drohende Gefahr waren wir durch die Berichte aus anderen Ländern aufmerksam geworden, die ungewöhnliche Schwere überraschte alle. Die Influenza trat ebenso verheerend in anderen, am Kriege nicht beteiligten Ländern auf, ihre schnelle tödliche Wirkung gerade auf Jugendliche verbreitete verständlichen Schrecken. Sie griff so stark um sich, dass in den grossen Krankenhäusern ganze Pavillons für die Influenzakranken geräumt werden mussten. Der Anblick eines solchen Pavillon, in dem überwiegend Jugendliche mit den Zeichen schwerster Lungenentzündung röchelnd lagen, war auch für Abgehärtete erschütternd. Trotz aller Fortschritte der bakteriologischen Seuchenlehre gab es kein Mittel der Verhütung, keines der Heilung; die Epidemie gab uns zu den alten Rätseln der Influenza nur neue, noch heute ungelöste auf.

Die Steigerung der Tuberkulosesterblichkeit, etwa um Ende 1916 klein beginnend, setzte sich unerwartet steil in den nächsten zwei Jahren fort, um dann ebenso steil, und diesmal völlig unerwartet, abzusinken. In der durch den sorgfältig vorbearbeiteten Zahlenstoff genau festgelegten Jahrhundertkurve der Tuberkulosesterblichkeit bildet die plötzlich an und absteigende Erhebungszacke der Tuberkulosesterblichkeit nach Kalenderjahren eine einmalige Erscheinung ohne Vergleichsstoff aus anderen Zeiten innerhalb ihrer 7 bis 10 Jahrzehnte [/67c] zuverlässiger Tuberkulosestatistik. Der Gipfel dieser steilen Zacke lag allerdings noch erheblich tiefer als der durch Jahre nur sehr langsam absinkende Höhepunkt der Tuberkulosekurve von 1875-1885 in Deutschland und vielen anderen Ländern. Das schnelle und jähe Absinken, die geringe Breite der Erhebung war das Neue. In jenen Jahren grösster wirtschaftlicher Not war geringer Anlass und noch geringere Möglichkeit zu Versuchen mit Bekämpfungsmassnahmen. Man sah in der Zunahme der Sterblichkeit unabwendbare Folgen des gesamten Zusammenbruchs auf allen Gebieten und fand sich fatalistisch ab. Erst viel später wurde der Stoff [so] eingehend zerlegt und statistisch wie klinisch durchgearbeitet, dass die Untersuchung möglich wurde. Wie so oft machten sich manche Bearbeiter anfangs die Feststellung der Ursachen allzu leicht und legten sich auf einzelne Punkte fest; was man von den Beziehungen der Parasiten zum Wirt oder jeweils von den Zusammenhängen zwischen Wirtschaft und Tuberkulose wusste, wurde auf die neue Erscheinung bezogen und daraufhin die Epidemie erklärt. Erst die statistische Einzelforschung, die Zerlegung nach Alter und Organen, die Untersuchung der gleichzeitigen Beteiligung anderer Schädlichkeiten zeigte, dass so einfache Deutungen nicht als befriedigend angesehen [werden] durften. Jetzt erst, nach Verlauf zweier Jahrzehnte, bei einem Tiefstand der Tuberkulosesterblichkeit, wie er mindestens seit einem Jahrhundert in Europa nicht bestand, und schliesslich angesichts der Bereicherung unserer Kenntnisse auf vielen Teilgebieten der Tuberkuloseforschung, würde eine unbefangene Wiederaufnahme der Untersuchung wohl manches fühlbare Ergebnis versprechen.

Mit den epidemiologischen Eigenschaften des Unterleibstyphus, von Masern, Scharlach, Diphtherie und Tuberkulose habe ich mich ein halbes Jahrhundert ständig befasst. Während der Assistentenzeit und später als Arzt galt diese Anteilnahme der ärztlichen Behandlung der mir [/67d] überwiesenen Einzelerkrankungen. Aber Anlage und Neigung zwangen mich dazu, das Erleben des Einzelfalls dem grösseren Geschehen der Massenerkrankung einzuordnen. Als ich die ersten Seuchenstudien begann, waren die genannten Krankheiten ausserordentlich verbreitet und das Ereignis, z. B. von Scharlach als Kind nicht befallen zu werden, galt als die bemerkenswerte Ausnahme, wie dies bei den Masern auch heute noch gilt. In den 50 Jahren meiner beruflichen Tätigkeit nahmen besonders Typhus, Diphtherie, Scharlach und Tuberkulose beständig an Ausdehnung ab. Kaum war die eine Untersuchung zur Not befriedigend beendet, so hatte seit ihrem Beginn schon wieder eine grosse Abnahme eingesetzt; dafür traten ganz allmählich andere, in meiner Jugend kaum bekannte in den Vordergrund. Meine Untersuchungen drehten sich daher hauptsächlich um das Kommen und Gehen der einheimischen Epidemien und die kurzen oder langen Zeitabschnitte ihrer Schwankungen. Dabei muss man aber die Sterblichkeit, gemessen an der Zahl aller Lebenden der hauptsächlich betroffenen Altersklasse, in ihre Bestandteile der Empfänglichkeit und Hinfälligkeit zerlegen, und nicht nur die Wirkungen der Fortschritte von Vorbeugung und Heilung, sondern auch die Einrichtung höherer, davon nicht beeinflussbarer Faktoren auseinander halten. Am Unterleibstyphus z.B., wo die Krankheit recht selten geworden ist, stirbt heute annähernd die gleiche Zahl voll Erkrankter, wie zu Beginn meiner Tätigkeit, wo die Erkrankung weit verbreitet war: An der Heilbarkeit hat sich also nichts gebessert. Bei Scharlach und Diphtherie haben sowohl die Empfänglichkeit wie die Hinfälligkeit abgenommen, und zwar die erstere bei beiden Seuchen stärker als die letztere; die erstere muss daher heute noch auf je 10000 der Bedrohten, die letztere auf je 100 der Erkrankten berechnet werden. Aber für Diphtherie gilt als Hauptgrund der Abnahme der Sterblichkeit die Einführung der Heilserumbehandlung; für Scharlach besitzen wir kein ursächliches Heilmittel; vielleicht wird die, der letzten Gegenwart zu verdankende Heilwirkung neu entdeckter chemischer Stoffe auf die Folgeerkrankungen hier von Wirkung sein. Für die Erkrankung an Masern ist jedes nicht durchmaserte Kind voll empfänglich, und fast 100% erkranken heute noch an der Vollerkrankung; ein spezifisches Heilmittel ist unbekannt, und dennoch hat auch die Tödlichkeit der Masern ohne einen Fortschritt der Hygiene oder Heilkunde abgenommen.

[/67e] Auf die Gefahr, wieder einmal als Schwimmer gegen den Strom der geltenden Lehren herausgestellt zu werden, muss ich als Kenner der Geschichte der einheimischen Seuchen durch die Jahrhunderte den folgenden Satz aufstellen. Die Einführung eines allgemein angewendeten Heilmittels gegen eine einzelne Epidemieform muss einer zwiefachen Untersuchung unterworfen werden; sie bedeutet einmal eine positive Neuerung von Beachtlichkeit, sie enthält aber zweitens eine weitere Tatsache, die negativen Folgen des vollständigen Verzichts auf die früher vor diesem Zeitpunkt allgemein durchgeführte Behandlungsweise. Erst das Gegenüberstellen beider Vorgänge gestattet ein Urteil über einen eingetretenen Erfolg. Wie die Dinge im Einzelfalle liegen, muss die Beobachtung entscheiden. Und sie muss für die Diphtherie z.B. feststellen, dass heute kein einziger Arzt sich noch getrauen würde, die kranken Kinder derjenigen örtlichen Behandlung zu unterwerfen, die zu den Zeiten, als ich während des Herrschens schwerer Epidemien in den Jahren 1880-1890 die ärztliche Tätigkeit aufnahm, die allgemein übliche war. Das Beispiel der Masern wiederum zeigt, dass ausser unseren besonderen fachlichen Fortschritten, die nicht verkleinert werden sollen, die Verbreitung der allgemeinen hygienischen Kultur unter der grossen Allgemeinheit einen Anteil an der Absenkung der Tödlichkeit hat, der ebenso für alle anderen übertragbaren Krankheiten einzusetzen ist. Er erstreckt sich aber nicht nur auf die Herabsetzung der Tödlichkeit, sondern auch auf die Herabsetzung der schädlichen Folgen vieler in Genesung übergehender Infektionskrankheiten, für die Funktion lebenswichtiger Organe, besonders der Sinnesorgane. Die Fortschritte in der Vorbeugung vermeidbarer Krankheiten sind wirkungsvoller als die der Herabsetzung der Sterblichkeit Erkrankter, die deshalb selbstverständlich nicht entbehrlich wird.

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Kapitel: Arbeit mit dem Parlament [S. 128-144, Auszug]

Anders war das Schicksal des Preussischen Gesetzes zur Bekämpfung der Tuberkulose. […]

[/140] Den Gesetzentwurf auszuarbeiten war eine sehr einfache Aufgabe. Es handelte sich erstens wieder nur darum, die Meldepflicht auf übertragbare Krankheitsformen Lebender auszudehnen und zweitens, was grundsätzlich neu war, dafür zu sorgen, dass das Gesetz nicht ein Polizeigesetz mit Verboten und Strafen werden durfte, sondern ein solches der Fürsorge, in dem auch die Hilfe für die noch besserungsfähigen Erkrankten gegenüber dem Schutz der von ihnen Bedrohten nicht geopfert werden durfte. Es war ein Vorbild für den Grundgedanken, dass auf dem Gebiet der Gesundheitspflege der Schutz der Gesamtheit mit der Sorge für den Einzelnen ohne Gegensätze vereint werden kann und muss. Von den ausgezeichneten Sachverständigen, denen zunächst unser Entwurf zur Begutachtung vorgelegt wurde, war dieser letzte Gedanke denjenigen neu, die nur im Laboratorium oder am Schreibtisch ihrer Arbeitsstube tätig waren. Uns hatten die Erfahrungen der jungen kommunalen Tuberkulosefürsorge auf unseren höheren Gesichtspunkt geführt. Von der gekennzeichneten Gruppe wurde anfangs immer wieder betont, jedes Tuberkulosegesetz müsse mit dem Paragraphen beginnen, Überträger ist der erkrankte Mensch, der den Erreger nach aussen ausscheidet. Und es müsse mit dem Paragraphen schliessen, dass jeder, der seine Ausscheidungen nicht auf Verlangen untersuchen liesse, zu bestrafen ist. Wir betonten, dass der Verlauf und Ausgang, also der Fortschritt von einer noch harmlosen Erkrankung zu einer unheilbaren und für die Umgebung gefährlichen, von der Höhe der Fürsorge, sowie von der rechtzeitigen Erkennung, Versorgung und Belehrung Erkrankter abhinge. Wir hatten das Schulseuchengesetz der Regierung von 1907 begrüsst, das jeden Lehrer vom Betreten des Schulhauses fernhielt, wenn und solange er Tuberkelbazillen ausschied. Wir hatten aber auch erfahren müssen, dass niemals ein Lehrer, auch beim begründeten Verdacht auf offene Tuberkulose, brauchbaren Auswurf zur Untersuchung brachte; [/141] es waren stets harmlose Ausscheidungen; er fürchtete die Folgen für seine Stellung. Sobald man aber menschlich mit ihm sprach, ihm Urlaub und Übernahme der Heilstättenkosten zusicherte, wurde die Untersuchung des Auswurfs möglich und war öfter positiv. Heute kommt man schon dank der Röntgenuntersuchung, welche Hinterziehungen ausschliesst, zum Ziel. Aber der Grundsatz wird dadurch nicht berührt. Es gelang, die Sachverständigen fast einstimmig für diesen Gedanken zu gewinnen.

Schliesslich durfte im Gesetzentwurf nicht sofort die Forderung des 'alles oder nichts' verfolgt werden, man durfte den Kreis der Meldepflichtigen zunächst nicht weiter ziehen, als zum Schutz der Umgebung erforderlich war. Die grössere Gefahr war es, dass bei der Beratung dieses Gesetzes jeder Beteiligte seinen Lieblingsgedanken, auch wenn er nicht unmittelbar dazugehörte, mit hineinarbeitete. Schon im Kreise der Sachverständigen bestand diese Gefahr, konnte aber noch beschworen werden. Im Parlamentsausschuss war sie grösser und mit Sicherheit zu erwarten.

[…]

Als die zweite Lesung in der Vollversammlung, die über das Schicksal des Gesetzes entschied, schon anberaumt war, sagte mir der Minister [sc. H. Hirtsiefer], dass das Gesetz am Widerspruch mehrerer Parteien scheitern und abgelehnt werden würde. Gemäss dem Ministerbeschluss enthielt es kein Wort über Kosten und Kostenträger; die Erweiterung der Meldepflicht erforderte ja keine neuen Ausgaben. Aber die Abgeordneten waren ängstlich geworden. Bei einem Gesetz aus einer anderen Abteilung des gleichen Ministeriums waren [/144] die wirklich entstehenden Kosten vom Staat den Gemeinden zugeschoben worden. Das hatte Ärger erregt, und man fürchtete von einer Wiederholung Gefahr für die Mandate. […] In der folgenden, schlaflosen Nacht kam mir der rettende Gedanke. Es ging mir wie stets nur um die Sache, nicht um meine durch eine Niederlage gefährdete Stellung. Die Altersgrenze hatte ich schon überschritten, meine Tätigkeit war um ein Jahr verlängert worden und dauerte jetzt nur noch wenige Wochen. Am nächsten Morgen bat ich die ärztlichen Abgeordneten aller Fraktionen in mein Zimmer, stellte ihnen vor, wie schmerzlich es uns Medizinern sein müsse, nach längerer Beratung eines unleugbaren Fortschrittes vor dem Scheitern zu stehen. Ich schlug ihnen die Einbringung eines gemeinsamen Initiativantrages als Zusatz vor mit dem Wortlaut: "Die Kosten des Gesetzes werden aus dem Extraordinarium Par.X No.Y bestritten". Dort stand eine Position "Zur Bekämpfung der Tuberkulose N Reichsmark". Die Summe wurde jedes Jahr neu festgesetzt. Als ich vor Beginn der Verhandlungen in die Vorzimmer des Sitzungssaales kam, waren die Fraktionssitzungen schon beendet. Zwei Fraktionsvorsitzende beglückwünschten mich zu dem gefundenen Kompromiss. Wenige Stunden darauf war das Gesetz in zweiter und dritter Lesung ohne Erörterung angenommen. Sachlich geändert war gar nichts. Mir als Mediziner gefiel es nicht recht, dass man nur einen Schönheitsfehler durch ein Pflaster unsichtbar gemacht hatte, und dass ohne dieses Pflaster ein wichtiger Fortschritt gescheitert wäre. Das Gesetz hatte Lücken und wurde später ergänzt. Aber es war das erste Seuchengesetz, in dem der rein polizeiliche Standpunkt durch den der Fürsorge ergänzt wurde, ein Gesetz, dessen Ausführung von der Polizeibehörde auf die Gesundheitsverwaltung übergegangen war.

Epidemiologische Werke in Auswahl:

Gottstein A (1896): Über die Beziehungen zwischen Epidemien und Kindersterblichkeit, in: Hygienische Rundschau 6, H. 19, S. 921-936

Gottstein A (1897): Allgemeine Epidemiologie (=Bibliothek für Sozialwissenschaften XII), Wigand Leipzig

Gottstein A (1903): Die Periodizität der Diphtherie und ihre Ursachen. Epidemiologische Untersuchung, Hirschwald Berlin

Gottstein A (1905): Das periodische Auftreten der endemischen Seuchen, in: Medizinische Klinik 1, 1905, S. 253-255

Gottstein A (1929): Die Lehre von den Epidemien (= Verständliche Wissenschaft 5), Springer Berlin

Gottstein A (1930): Kommen und Gehen der Seuchen, in: Verhandlungen der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte 90, H. 5, S. 906-912

Gottstein A (1934): Auslesewirkungen der menschlichen Infektionskrankheiten?, in: Die Na­turwissenschaften 22, S. 231-235

Gottstein A (1934): Die Seuchenkurve, in: Ergebnisse der Hygiene, Bakteriologie, Immuni­tätsforschung und experimentellen Therapie 16, S. 209-225

Gottstein A (1936): Seuchenprognostik, in: Gesundheit und Wohlfahrt (vorm. "Schweizer Zs. f. Hygiene", Zürich) 16, S. 354-364

Gottstein A (1937): Epidemiologie - Grundbegriffe und Ergebnisse, Deuticke Wien/ Leipzig

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