Projektskizze

"Muttermilch ist unersetzlich" - Säuglingsfürsorge,
ärztliche Stillempfehlungen und Stillverhalten im 20. Jahrhundert

Thorsten Halling, Luisa Rittershaus und Jörg Vögele

 “Breastfed children have at least six times greater chance of survival in the early months than non-breastfed children.... But non-breastfed children in industrialized countries are also at greater risk of dying.” So fasst UNICEF auf ihrer Homepage die aktuellen Befunde zum Stillen zusammen. (www.unicef.org/nutrition/index_24824.html). UNICEF und die World Health Organization propagieren deshalb den Beginn des Stillens innerhalb der ersten Stunde nach der Geburt und empfehlen, den Säugling in den ersten sechs Lebensmonaten ausschließlich zu stillen.

Die Ursprünge dieser Stillpropaganda liegen in den industrialisierten Ländern des frühen 20. Jahrhunderts und sind eng verknüpft mit dem Aufstieg der Sozialpädiatrie. Während die hohe Säuglingssterblichkeit traditionell als unvermeidbares Schicksal gesehen wurde, lösten sinkende Geburtenraten gegen Ende des 19. Jahrhunderts Befürchtungen aus, dass die Zukunft der Nation in wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht nicht mehr gewährleistet sei.Im internationalen Vergleich schnitt das Deutsche Reich schlecht ab: In manchen Jahren überlebte nur ein Drittel aller Geborenen das erste Lebensjahr; oftmals erreichte nur die Hälfte eines Geburtsjahrganges das Erwachsenenalter. Mit zunehmender gesellschaftlicher Bedeutung des bevölkerungswissenschaftlichen Diskurses sicherten sich die Ärzte beim Thema Säuglingssterblichkeit Aufmerksamkeit und wissenschaftliche Autorität. So gelang es, die Pädiatrie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als eigenes Fach in der universitären Medizin zu etablieren

Im Mittelpunkt stand dabei die wissenschaftliche Erforschung der Säuglingssterblichkeit und ihrer Determinanten. Da kurative Therapien lediglich beschränkt zur Verfügung standen, konzentrierte sich die Pädiatrie der Zeit auf sozialhygienische Ansätze. Als Schlüsselvariable für das Überleben bzw. das gesunde Heranwachsen des Säuglings wurde die Ernährungsweise identifiziert, konkret: die Fragen, ob bzw. wie lange der Säugling gestillt wurde, wann der Übergang zu künstlicher Ernährung erfolgte bzw. was in welcher Menge, Zubereitung und Darreichungsform zugefüttert wurde. Da der Säugling selbst keine hinreichende Auskunft über seinen Zustand geben konnte, war die Medizin bemüht, die Einzelbefunde zu normieren und zu objektivieren. Dazu wurden einerseits Vorgaben über die monatliche Entwicklung von Größe und Gewicht des Säuglings entworfen, anderseits galt die Säuglingssterblichkeit als aufschlussreicher Indikator. Daraus wurde das Ziel abgeleitet, die Stillquoten zu heben bzw., sofern der Mutter das Stillen nicht möglich war, auf eine adäquate Ersatznahrung, die sogenannte künstliche oder unnatürliche Ernährung, hinzuwirken. Zu diesem Zweck entwickelte man Lehrmaterial und Aufklärungsbroschüren, in denen die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Kinderheilkunde popularisiert werden sollten.

In dem Arbeitsprojekt erfolgt eine systematische wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung der ärztlichen Ernährungsempfehlungen sowie eine umfassende historische Analyse der Ratgeberliteratur. Um Kontinuitäten und Diskontinuitäten herauszuarbeiten erstreckt sich das Vorhaben zeitlich von den Anfängen der Sozialpädiatrie über die mit nationalsozialistischer Ideologie verbrämten Ernährungsempfehlungen, von der sinkenden Bedeutung des Stillens und dem „Füttern nach Bedarf“ in den 1970er Jahren bis hin zu den steigenden Stillquoten der letzten Jahrzehnte. Dabei soll geprüft werden, ob und wieweit diese Empfehlungen physiologische Konzepte (Überfütterung vs. Unterernährung, Muttermilch vs. künstliche Ernährung, feste Stillzeiten vs. ad libitum), konjunkturelle Schwankungen (Not vs. Überfluss; Lebensmittelindustrie vs. „Natürlichkeit“ und Autarkie; Kriegswirtschaft) sowie ideologische Differenzen (BRD vs. DDR) reflektiert haben. Weiterhin soll das tatsächliche Stillverhalten (Stillquoten, Stilldauer) rekonstruiert und mit den Empfehlungen abgeglichen werden.

Dazu werden (1.) entsprechende Angaben aus einschlägigen Hand- und Lehrbüchern der Kinderheilkunde (auch in Abgrenzung zur Gynäkologie und zur Inneren Medizin) systematisch erhoben und ausgewertet. Ziel ist es herauszuarbeiten, was Experten als Bedarf dieser verletzlichsten Bevölkerungsgruppe galt und welchen Stellenwert diese Thematik in der pädiatrischen Forschung einnahm. Auf der Grundlage dieser wissenschaftlichen Literatur soll dann (2.) ein Sample popularisierender Darstellungen formal (nach Sprache und Bild) und inhaltlich analysiert werden. Grundlage bilden dabei, Schulbücher, Ratgeber, Atlanten und Tafelwerke, Ausstellungen sowie Flugblätter und Aufklärungsschriften. Schließlich soll (3.) die Seite der Mütter gehört werden und ein Licht auf das tatsächliche Stillverhalten geworfen werden, indem autobiographische Zeugnisse (Tagebücher) ausgewertet und – für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Mütter verschiedener Generationen befragt werden (Oral History).

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